Wie föderale Staaten entstehen und wie viele es gibt

Alexander Arens, 22. November 2021

Die Entstehung föderaler Staaten ist komplex. Es sind etwa strategische Überlegungen, äusserer Druck und innerstaatliche Diversität, welche die Gründung föderaler Staaten erklären können. Heute sind von den fast 200 Staaten zwar bloss etwa 25 föderal. Sie umfassen allerdings 40 Prozent der Weltbevölkerung.

Föderalismus bedeutet Nichtzentralisierung. Das heisst, staatliche Macht und Aufgaben sind auf die Gliedstaaten respektive die Kantone (self-rule) sowie den gemeinsamen Bund (shared rule) aufgeteilt.1 Entscheidend ist, dass diese Machtteilung weder durch die zentralstaatlichen Institutionen noch die Gliedstaaten alleine geändert werden kann, sondern es eines Kompromisses bedarf – bei dieser und weiteren wichtigen politischen Fragen (siehe die Infobox für eine detailliertere Definition).2 Kern föderaler Staaten ist also ein bestimmter Grad an Autonomie der Gliedstaaten einerseits und ihrer Mitwirkung auf nationaler Ebene andererseits. Dies unterscheidet sie von unitarischen, einheitsstaatlichen Systemen. Dazu kommen Institutionen und Prozesse, welche die gliedstaatlichen Autonomien sichern und die Mitwirkung im Bund ermöglichen: beispielsweise eine zweite Parlamentskammer (siehe Ständerat), Organe zur Kooperation zwischen den Gliedstaaten und Staatsebenen (etwa die Konferenzen im Haus der Kantone) sowie eine Instanz, die bei Kompetenzstreitigkeiten schlichtet (etwa die Bevölkerung im Rahmen von Volksentscheiden).3

Die Entstehung föderaler Staaten

Die Entstehung föderaler Staaten nachzuvollziehen ist nicht weniger komplex als das Konzept selbst. Während dieser Prozess in vielen klassischen Föderalstaaten wie den USA oder der Schweiz einem Zusammenkommen vormals (relativ) unabhängiger Staaten ähnelt, so kann mittels Föderalisierung ein bestehender Staat zusammengehalten werden: siehe etwa Belgien4, wo die föderale Ordnung ein Mittel zur innerstaatlichen Konfliktbefriedung entlang der Sprachgrenze darstellt.5 Lange herrschte die Meinung vor, dass sich föderale Staaten allein aus sicherheitspolitischen Überlegungen zum Schutz oder zur Expansion erklären lassen.6 Dies ignoriert weitgehend, dass föderale Staaten auf Vielfalt beruhen, sei dies sprachlich, kulturell, religiös oder weltanschaulich genauso wie ökonomisch, sozial oder strukturell.7 Solche Differenzen bestehen nicht nur in paradigmatischen Fällen wie der Schweiz oder Kanada, sondern auch jüngeren Föderalstaaten wie Indien oder dem in Teilen föderalen Spanien. Dabei kann Föderalismus ein Mittel sein, um Vielfalt zu schützen und gleichzeitig ein Land zu einen.8

Jüngste Beiträge zeigen zudem, dass gerade in klassischen Fällen wie Deutschland oder der Schweiz die relativ späte Staatsgründung bedeutet, dass sich auf regionaler Ebene bereits handlungsfähige Einheiten etabliert hatten, die auf eine funktionierende Verwaltung und bestehende Infrastruktur zurückgreifen konnten.9,10 Davon profitierte auch der Bund, der kaum neue Strukturen schaffen musste. Die Entstehung föderaler Staaten lässt sich folglich als Kombination verschiedener Faktoren verstehen: rationale Überlegungen zu Sicherheit und ökonomischer Integration, Bewahrung und Schutz von Minderheiten ebenso wie eingespielter und zweckmässiger Aufgabenerfüllung.

Föderale Staaten im 21. Jahrhundert

Als föderal gelten heute rund 25 Staaten, die zusammen mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen (siehe Abbildung 1).11 Dazu kommen Länder, die als Einheitsstaaten gelten, aber einzelne Merkmale föderaler Staaten aufweisen. Die Schweiz gilt als klassischer, flächenmässig kleiner, aber dicht besiedelter und gesellschaftlich heterogener Föderalstaat. Mit Blick auf Abbildung 1 zeigt sich zudem, wie schwer Generalisierungen auch hier sind: Föderale Staaten unterscheiden sich mitunter stark in ihrer Grösse (Fläche), Bevölkerungszahl und -dichte, gesellschaftlichen Zusammensetzung, ökonomischen Entwicklung sowie ihrer Anzahl an Gliedstaaten und deren ökonomischer Stärke.12

Gleiches gilt für den Vergleich der föderalismusspezifischen politischen Institutionen und Prozesse. Man nehme hier etwa den direktgewählten Schweizer Ständerat (Senatsmodell) im Vergleich zum aus den Regierungen der Bundesländer zusammengesetzten deutschen Bundesrat (Bundesratsmodell).13 Auch ist Föderalismus mit unterschiedlichen Regierungsformen kompatibel und funktioniert im US-amerikanischen Präsidialsystem ebenso wie in der parlamentarischen Demokratie Kanadas.14

Abbildung 1: Die föderalen Staaten der Welt, 2021

Quellen: Griffiths et al. (2020)15, Forum of Federations16, Watts (2008)17, Hueglin und Fenna (2015)18, Anderson (2008)19, Freedom House (2021)20. Weitere länderspezifische Quellen auf Anfrage.

Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft

Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte wird oftmals von der «Revitalisierung der föderalen Idee»21 gesprochen: Einerseits wurden föderale Strukturen in verschiedenen Staaten etabliert, um im Nachgang kriegerischer Konflikte den erreichten Frieden zu sichern. Ein bekanntes Beispiel ist Bosnien und Herzegowina, das sich seit 1995 durch seine konkordanzdemokratische und föderale Machtteilung auszeichnet.22 Aber auch in etablierten Demokratien und klassischen Einheitsstaaten sind Bemühungen zu erkennen, um Politik zu regionalisieren und damit passgenauere politische Lösungen zu ermöglichen.

Ein Beispiel hier ist die Devolution im Vereinigten Königreich, also die stete Abgabe von Rechten und politischem Handlungsspielraum von Westminster hin zu gewählten politischen Institutionen in Schottland, Wales und Nordirland sowie auf die regionale bzw. lokale Ebene.23 Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass föderale Staaten verschiedenen Herausforderungen gegenüberstehen.24

In der internationalen Politik ist insbesondere die nationale politische Ebene eines Landes dominant, während die Gliedstaaten hier in der Regel aussen vor sind. Diese müssen ebenso wie der Bund Antworten darauf finden, wie lokale Einheiten und regionale Räume im politischen Mehrebenensystem mitwirken können. Zuletzt müssen föderale Staaten Probleme adressieren, welche nationale oder gar internationale Lösungen erfordern. Neben dem Klimawandel hat die Covid-19-Pandemie dies zuletzt unterstrichen. All dies bedeutet aber nicht, dass «One size fits all»-Politiken einheitsstaatlicher und zentralistischer Systeme hier überlegen sind. Vielmehr müssen diese zusätzlich jene bedeutende Frage beantworten, deren Lösung in föderalen Staaten angelegt ist: Wie kann der Vielfalt in einem Land Rechnung getragen werden, während gleichzeitig zusammengearbeitet wird und politische Einheit besteht? «Einheit in der Vielfalt» ist weniger Versprechen als vielmehr politische Realität in föderalen Staaten.

Infobox

Föderalismus bezeichnet «im institutionell-staatsrechtlichen Sinne […] einen Staatsaufbau […], der aus (mehr oder minder selbstständigen) Gliedstaaten […] und dem durch ihren Zusammenschluss gebildeten Bund besteht».25 Die vollständige oder teilweise Autonomie der Gliedstaaten bei der Regelung bestimmter Politikbereiche (z.B. bei der Bildungspolitik) wird dabei self-rule genannt. Andere Politikbereiche (z. B. die Aussenpolitik) werden auf nationaler Ebene unter Mitwirkung der Gliedstaaten gemäss dem Prinzip der shared rule geregelt. Vor diesem Hintergrund
zeichnen sich föderale Staaten insgesamt durch folgende Strukturmerkmale aus:26

  1. mindestens zwei mit Staatsqualität versehene Staatsebenen (national und subnational)
  2. eine in der Verfassung, also der «politische[n] Grundordnung»27, festgeschriebene Aufgabenverteilung beim Vollzug, der Gesetzgebung und den Finanzen, die jeder Ebene gewisse Autonomien belässt
  3. Institutionen zur Mitwirkung der subnationalen Einheiten auf nationaler Ebene (bspw. mittels zweiter Parlamentskammer)
  4.  eine übergeordnete Verfassung, die nicht einseitig geändert werden kann und die Zustimmung einer grossen Mehrheit der Gliedstaaten bedarf
  5. einen Schiedsrichter zur Lösung von Kompetenzstreitigkeiten (bspw. ein Verfassungsgericht)
  6. intergouvernementale Institutionen zur Koordination (bspw. gemeinsame Konferenzen)

Im Föderalismus ist der vierte Punkt besonders zentral: Die in der Verfassung festgeschriebene vertikale Aufgabenteilung («wer macht was»), die grundlegende staatliche Ordnung und die wichtigsten politischen Fragen können nicht unilateral durch die Gliedstaaten oder die nationale Politik geändert und bestimmt werden. Dazu bedarf es der Zustimmung von Gliedstaaten und Bund: In der Schweiz etwa von der Stimmbevölkerung und den Ständen.28,29,30 In föderalen Staaten ist staatliche Macht also vertikal zwischen den Ebenen aufgeteilt (Nichtzentralisierung) und diese (territoriale) Machtteilung ist wiederum durch hohe, oftmals qualifizierte Mehrheitsanforderungen geschützt. Hier besteht denn auch der Unterschied zur De-/Zentralisierung: Diese beschreibt lediglich die (dynamische) Verschiebung von Aufgaben von einer staatlichen Ebene auf eine andere.31  Solche (bedingten) Verschiebungen von legislativen, administrativen und/oder fiskalischen Zuständigkeiten können gleichermassen sowohl im Föderal- als auch im Einheitsstaat auftreten. Die beiden Modelle staatlicher Organisation stehen sich entgegen, sodass der Einheitsstaat einen «Staat [beschreibt], dessen Staatsgewalt – im Unterschied zum Bundesstaat – ausschliesslich in einheitlichen, für das gesamte Staatsgebiet zuständigen Organen verankert ist».32

Referenzen

1 Elazar, D. J. (1987). Exploring Federalism . University of Alabama Press.

2 Wheare, K. C. (1963). Federal Government, 4th ed . Oxford University Press.

3 Watts, R. L. (2008). Comparing Federal Systems, 2nd ed. McGill-Queen's University Press, S. 9.

4 Deschouwer, K. (2012). The Politics of Belgium. Governing a divided society (2 nd edition) . Palgrave Macmillan.

5 Stepan, A. C. (2005). Federalism and Democracy: Beyond the U.S. Model. In Dimitrios, K. und W. Norman (Hrsg.), Theories of Federalism: A Reader . Palgrave Macmillan (S. 255–268).

6 Riker, W. H. (1975). Federalism. In Greenstein, F. I. und N. W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Volume 5: Governmental Institutions and Processes . Addison-Wesley (S. 93–172).

7 Livingston, W. S. (1952). A Note on the Nature of Federalism. Political Science Quarterly 67(1) : S. 81–95.

8 Erk, J. und L. Anderson (2009). The paradox of federalism: does self-rule accommodate or exacerbate ethnic divisions? Regional & Federal Studies 19(2): S. 191–202.

9 Ziblatt, D. (2006). Structuring the State: The Formation of Italy and Germany and the Puzzle of Federalism. Princeton University Press.

10 Lehmbruch, G. (2019). Sub-Federal State-Building and the Origins of Federalism: A Comparison of Austria, Germany and Switzerland. In Behnke, N., J. Broschek und J. Sonnicksen (Hrsg.), Configurations, Dynamics and Mechanisms of Multilevel Governance. Palgrave Macmillan (S. 369–385).

11 Kincaid, J. und R. Chattopadhyay (2020). Introduction. In Griffiths, A., R. Chattopadhyay, J. Light und C. Stieren (Hrsg.), The Forum of Federations Handbook of Federal Countries 2020. Springer Nature (S. 1–16).

12 Hueglin, T. O. und A. Fenna (2015). Comparative Federalism. A Systematic Inquiry, 2nd ed. University of Toronto Press, S. 47.

13 Vatter, A., R. Freiburghaus und L. Triaca (2017). Deutsches Bundesrats- vs. Schweizer Senatsmodell im Lichte sich wandelnder Parteiensysteme: Repräsentation und Legitimität Zweiter Kammern im Vergleich. Zeitschrift für Parlamentsfragen 48(4): S. 741–63.

14 Benz, A. und J. Sonnicksen (2017). Patterns of federal democracy: tensions, friction, or balance between two government dimensions. European Political Science Review 9(1): S. 3–25.

15 Griffiths, A., R. Chattopadhyay, J. Light und C. Stieren (Hrsg.) (2020). The Forum of Federations Handbook of Federal Countries 2020 . Palgrave Macmillan.

16http://www.forumfed.org/countries/ (zuletzt geöffnet am 11.6.2021).

17 Siehe FN 3 (S. 12).

18 Siehe FN 12 (S. 48).

19 Anderson, G. (2008). Federalism: An Introduction . OUP, S. 3.

20https://freedomhouse.org/countries/freedom-net/scores (zuletzt geöffnet am 27.9.2021).

21 Burgess, M. (2012). In search of the federal spirit: New theoretical and empirical perspectives in comparative federalism . OUP, S. 1.

22 Keil, S. (2018). Föderalismus in Bosnien und Herzegowina. In Flessenkemper, T. und N. Moll (Hrsg.), Das politische System Bosnien und Herzegowinas . Springer VS (S. 77–90).

23 Sturm, R. (2009). Politik in Großbritannien. Springer VS.

24 Siehe FN 11 (S. 13–14).

25 Schmidt, M. G. (2010). Wörterbuch zur Politik, 3. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Kröner, S. 260.

26 Siehe FN 3 (S. 9).

27 Siehe FN 25 (S. 832).

28 Siehe FN 3 (S. 9).

29 Palermo, F. und K. Kössler (2017). Comparative federalism: constitutional arrangements and case law. Hart Publishing.

30 Siehe FN 12 (gesamter Band).

31 Rodden, J. (2004). Comparative Federalism and Decentralization: On Meaning and Measurement. Comparative Politics 36(4): S. 481–500.

32 Siehe FN 27 (S. 204).


Zum Autor

Alexander Arens ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der ch Stiftung. Er hat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern promoviert.

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