Vom losen Staatenbund zum modernen Bundesstaat

Alexander Arens, 1. Juli 2021

Der Schweizer Bundesstaat ist nach den USA der älteste der Welt: Nach Jahrhunderten der losen Zusammenarbeit in der alten Eidgenossenschaft ebnete die Helvetische Republik und der Eingriff Napoleons den Weg für den modernen Bundesstaat von 1848. Begleitet wurden diese Entwicklungen stets durch ein zentrales Merkmal der Schweiz: Vielfalt.

Mit Blick auf den historischen Pfad erstaunt die politisch-föderale Organisation der Schweiz kaum: Die souveränen Einheiten der Alten Eidgenossenschaft (14. Jh.–1798) waren über Jahrhunderte hinweg in einem «komplexe[n] Bündnissystem» organisiert.1 Dieses entwickelte sich von losen Verbindungen zu einem dichten Geflecht, diente primär dem inneren wie äusseren Frieden und kannte mit der Tagsatzung, dem «Gesandtenkongress» der eidgenössischen Orte, gerade mal ein gemeinsames Organ.2

Mit der von Frankreich installierten Helvetischen Republik (1798–1803) wurde ein Einheitsstaat gebildet, der eine starke Zentralregierung besass und die Kantone zu Verwaltungseinheiten degradierte. Nach knapp fünf Jahren scheiterte die Helvetische Republik jedoch bereits wieder – nicht zuletzt am inneren Widerstand.3 Napoleon kommentierte dies wie folgt: «Je mehr ich über die Beschaffenheit Eures Landes nachgedacht habe, desto stärker ergab sich für mich aus der Verschiedenheit seiner Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit, es einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen; alles führt Euch zum Föderalismus hin.»4

Um den Einfluss Frankreichs zu sichern, trat Napoleon ab Herbst 1802 als Mediator auf und bereitete den Weg zurück zum Staatenbund (Mediationsakte 1803–1813). Während «[d]ie Mediationsakte […] die modernen Kantone [schuf]»5 – insbesondere ihre Souveränität wiederherstellte und (heutigen) Grenzen definierte –, so stärkte der Bundesvertrag von 1815 die Kantone weiter zulasten zentraler Machtausübung.6 Zwischen den erstarkten Kantonen offenbarten sich in der Folge jedoch Differenzen entlang der Frage um eine (liberale) Reform des Bundesvertrags. Der Streit zwischen Liberal-Radikalen und Konservativen führte zunächst zu interkantonalen Allianzen (Siebnerkonkordat einerseits und Sarnerbund andererseits). Später wurde er konfessionalisiert und entbrannte vollends im Sonderbundskrieg. Dieser resultierte in der Auflösung der als Sonderbund bezeichneten Schutzvereinigung der katholisch-konservativen Kantone. Zudem beschloss die liberale Tagsatzungsmehrheit am
12. September 1848 die Bundesverfassung, ein «pragmatisch-kompromisshaftes Werk»7, und begründete damit den modernen Bundesstaat.8

© Hans-Peter Gauster, Unsplash
 

Vielfalt als Wegbegleiter

Die Pluralität war und ist eine zentrale Rahmenbedingung der Schweizer Politik10 (siehe auch Abbildung 1):

  • Die Schweiz besitzt 26 Kantone und 2148 Gemeinden11,
  • weist eine hohe Vielfalt unter anderem bei Indikatoren der Bevölkerung und der Topografie auf – man denke hier etwa an die Kantone Basel-Stadt und Graubünden, die gegeben ihrer nahezu identischen Bevölkerungszahl (ca. 200'000) extreme Unterschiede in ihrer Gesamtfläche, deren Zusammensetzung und der Bevölkerungsdichte besitzen12 –,
  • kennt (entsprechend) städtische Zentren und ländliche Räume13 und
  • zeichnet sich durch seine Mehrsprachigkeit aus – neben den vier Landessprachen Deutsch (Hauptsprache für 62% der Bevölkerung), Französisch (23%), Italienisch (8%) und Rätoromanisch (0.5%) finden diverse Nichtlandessprachen wie Englisch oder Portugiesisch zunehmend Anwendung14.

Diese Vielfalt ist auch im oben skizzierten historischen Kontext beachtlich und lässt sich an der Mehrsprachigkeit exemplarisch darstellen. Diese wurde insbesondere von ausländischen Beobachterinnen und Beobachtern immer wieder mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Dies kann mit der weitverbreiteten Annahme erklärt werden, wonach «Nationalstaaten eine gleichartige soziale Substanz, vor allem die gleiche Sprache, als konstituierende Grundlage aufweisen müssen»15. Nicht so die Schweiz: Unter Eliten bereits vorher verbreitet, wurde die Mehrsprachigkeit mit der Helvetik politisch festgeschrieben, damals noch als Dreisprachigkeit.16In Art. 109 der Bundesverfassung von 1848 werden dann die deutsche, französische und italienische Sprache zu Nationalsprachen erklärt; 1938 folgt das Rätoromanische17. Nach der konfesisonall-religiösen Befriedung des Landes sehen die Politikwissenschaftler Linder und Mueller hier denn auch eine zentrale Errungenschaft des föderalen politischen Systems der Schweiz: «Die gesellschaftliche Integration der Sprachenminderheiten und die Verhinderung einer politischen Hegemonie der Deutschschweiz über die anderen Landesteile war [nach der konfessionellen Befriedung] die zweite bedeutende Integrationsleistung des Bundesstaats.»18

Politische Lösungen für gesellschaftliche Konflikte: Keine Selbstverständlichkeit

Es ist die Gesamtheit der Unterschiedlichkeiten innerhalb der kleinräumigen Schweiz, welche die Vielfalt und Pluralität des Landes ausmacht. Dass die Schweiz hier einen steten Ausgleich findet, zeigt sich gerade auch bei föderalismusrelevanten, potenziellen Konflikten. So sind beispielsweise Konflikte um mehr kantonale Autonomien oder mehr zentralstaatliche Kompetenzen nur ein «Nebenschauplatz», wenn sie denn überhaupt auftreten.19 Ähnliches gilt für die Sprachgruppen. Zwar treten immer wieder politisch-gesellschaftliche Differenzen zwischen den Landesteilen auf20, insbesondere auch im internationalen Vergleich mit anderen föderalen Ländern wie Kanada und Belgien gilt aber: «Die Schweiz ist anders. Sie gehört zu den wenigen mehrsprachigen Ländern, in denen das Zusammenleben der verschiedenen Sprachkulturen nie zu grösseren politischen Dauerproblemen geführt hat.»21 Dass das Instrumentarium des Föderalismus bei der Vereinbarkeit der hier gezeigten Vielfalt eine zentrale Rolle spielte und weiterhin spielt ist kaum von der Hand zu weisen. Gleichzeitig muss überlegt werden, wie virulente Konflikte wie jener zwischen Stadt und Land befriedet werden können.22,23 Der Föderalismus bietet hier einen Werkzeugkasten, welchem es sich in Reformdebatten zur Lösung solcher Konflikte zu bedienen lohnt.

Anmerkung: Die Angaben zur Bevölkerungsgrösse und -dichte beziehen sich auf das Jahr 2018, jene zur Mehrsprachigkeit auf 2016–2018. Aufgrund von Mehrfachnennungen kann bei letztgenanntem Indikator das Gesamttotal von 100% abweichen.
Quelle: BFS (2020)9.

Referenzen

1https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026413/2012-02-08/ (zuletzt geöffnet am 15.1.2021).

2 Peyer, H. C. (1978). Verfassungsgeschichte der alten Schweiz. Schulthess.

3https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009797/2011-01-27/ (zuletzt geöffnet am 15.1.2021).

4 Kley, A. (2013). Verfassungsgeschichte der Neuzeit: Grossbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz. Stämpfli, S. 267.

5 Maissen, T. (2012). Geschichte der Schweiz. hier + jetzt, S. 170.

6https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009809/2010-05-07/ (zuletzt geöffnet am 15.1.2021).

7 Kölz, A. (1992). Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte: Ihre Grundlagen vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848. Stämpfli, S. 611.

8https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/ (zuletzt geöffnet am 15.1.2021).

9 Bundesamt für Statistik BFS (2020). Ausgewählte Indikatoren im regionalen Vergleich, 2020 (Kantone). BFS. URL: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/regionalstatistik/regionale-portraets-kennzahlen/kantone.assetdetail.11587762.html (zuletzt geöffnet am 7.1.2021).

10 Neidhart, L. (2002). Die politische Schweiz. Fundamente und Institutionen. Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 99ff.

11 Stand: 1.1.2021; https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/grundlagen/agvch.assetdetail.15144517. html (zuletzt geöffnet am 7.1.2021).

12 Bundesamt für Statistik BFS (2020). Ausgewählte Indikatoren im regionalen Vergleich, 2020 (Kantone). BFS. URL: https://www.bfs.admin.ch/bfsstatic/dam/assets/11587762/master (zuletzt geöffnet am 7.1.2021).

13 Siehe FN 12.

14 Siehe FN 12.

15 Kreis, G. (2014). Mehrere Sprachen – eine Gesellschaft. In Kreis, G. (Hrsg.), Die Geschichte der Schweiz. Schwabe (S. 486–489 [S. 487]).

16 Haas, W. (2000). Sprachgeschichtliche Grundlagen. In Bickel, H. und R. Schläpfer (Hrsg.), Die viersprachige Schweiz. Verlag Sauerländer (S. 17–56 [S. 55–56]).

17https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024594/2012-06-19/ (zuletzt geöffnet am 15.1.2021).

18 Linder, W. und S. Mueller (2017). Schweizerische Demokratie: Institutionen, Strukturen, Prozesse, 4. Auflage. Haupt, S. 46.

19 Bolliger, C. (2007). Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003: Parteienkooperation, Konfliktdimensionen und gesellschaftliche Polarisierungen bei den eidgenössischen Volksabstimmungen. Haupt Verlag, S. 186–193.

20 Siehe FN 19 (S. 142–147).

21 Linder, W., R. Zürcher und C. Bolliger (2008). Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz: Gesellschaftlich Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874. hier + jetzt, S. 188–189.

22 Siehe FN 21 (S. 179–182).

23 Für eine zusammenfassende Darstellung der Konfliktlinien in der Schweiz nach aktuellem Stand siehe insbesondere: https://www.srf.ch/news/schweiz/politische-landschaft-differenzen-zwischen-stadt-und-land-spalten-tiefer-als-sprache (zuletzt geöffnet am 1.7.2021).


Zum Autor

Alexander Arens ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der ch Stiftung. Er hat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern promoviert.

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